Auszug aus: "Im Zug der Zeit"

Dann ging Steffen einige Meter weiter, doch er stoppte sofort wieder, denn natürlich war die Situation eigenartig - es nutzte doch nichts, das zu leugnen, dachte er nun. Gut, es war wahrscheinlich schon nach neun Uhr abends und es war selbstverständlich, dass es zu einer solch relativ späten Zeit etwas ruhiger in einem Zug war als noch zur Tageszeit, doch er hörte außer dem gedämpften Rauschen des Zuges überhaupt nichts. Er drehte sich zurück und sah den leeren Gang entlang. Dann wandte er sich wieder um und blickte in die entgegengesetzte Richtung in den ebenfalls leeren Gang. Kurz vor sich sah er nochmals ein Abteil, dessen Vorhänge geöffnet waren und er stürzte sogleich hastig darauf zu - auch dieses Abteil war leer. Auch hier hatten die Fahrgäste Zeitschriften, Taschen und Kleidungsstücke liegen lassen. Steffen musste sich allmählich eingestehen, dass ihm die Situation etwas unheimlich war. Scheinbar hatten alle Leute, die sich derzeit noch im Zug befanden, den Drang, entweder um neun Uhr zu schlafen und diese undurchsichtigen Vorhänge vorzuziehen, oder ihr Abteil zu verlassen und sich irgendwo im Zug zu verstecken.
Steffen beschloss, nun endlich den Bistro-Waggon aufzusuchen. Was sollte denn diese Gedankenspielerei? Schließlich war er froh, wenn er sich dieses ewige Gelaber von den Menschen nicht mitanhören musste. Er sollte froh darüber sein, wenn sie alle schliefen, oder ihm zumindest nicht über den Weg liefen. Nochmals ging Steffen einige Schritte weiter, doch dann packten ihn die Zweifel endgültig. Rechts von ihm war ein Fenster, durch das er nichts sehen konnte als die schwarze Nacht, und links war wieder eines dieser Abteile mit zugezogenem Vorhang. Der Gang war nach wie vor menschenleer.
Unschlüssig über den Sinn seines Tuns fasste er nach dem Griff, der an der Glastüre des Abteils angebracht war, gleich darauf ließ seine Hand den Griff jedoch wieder los. Er würde wahrscheinlich die schlafenden Leute darin aufwecken, wenn er die Tür öffnete, und natürlich wäre das dann äußerst peinlich. Allerdings, dachte er, könnte er dann ja einfach sagen, er hätte sich im Abteil geirrt - jedem passierte so etwas, warum nicht auch ihm? Nochmals sah er sich um; nochmals sah er niemanden. Müsste nicht irgendwann einmal jemand diesen Gang entlang gehen, so wie er es tat? Mussten die Menschen in diesem Zug nicht zur Toilette? Wollte sich niemand die Beine vertreten oder irgendetwas im Bistro-Waggon kaufen? Gab es keinen Prüfdienst?
Seine Hand schloss sich wieder um den Griff der Abteiltür und nach einigem Zögern öffnete er sie schließlich möglichst leise. Dann griff er nach dem Vorhang, der das ungewöhnliche Rätselspiel mit einem unheimlichen, mysteriösen Hauch versah, und mit einem leisen, rasselnden Geräusch glitt er langsam beiseite, so dass er die Sicht ganz allmählich freigab. Steffen sah auf sechs unbesetzte Plätze. Außer einem Mantel, einer Zeitung, einer Brille und einer Tasche befand sich nichts in dem Abteil.


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