Auszug aus der Geschichte: Von Kastanien und Knochen


Lange Jahre war der Friedhof ein Ort der Stille und Einkehr; ein Ort, an dem die Hinterbliebenen ihren verstorbenen Lieben zumeist in regelmäßigen Zeitabständen einen Besuch abstatten konnten. Leute brachten Blumen, sprenkelten etwas geweihtes Wasser auf die Erde, weinten um ihre schmerzlichen Verluste, sprachen heimlich mit den Toten und trafen andere lebendige Leidensgenossen - ein Leid, das andere mit uns teilen, scheint schließlich etwas an Gewicht zu verlieren. Alles war also zunächst so, wie es eben auf einem kleinen dörflichen Friedhof zu sein hatte; jedenfalls bis zum Tod der Witwe Steiner.
Schon bei der Beerdigung Frau Steiners herrschte, wie man sich hinterher erzählte, eine unheimliche, drückende Spannung unter den wenigen Trauergästen, die sich um das regennasse Loch versammelt hatten. Mit manchen Menschen scheint Gott mehr zu hadern als mit anderen, und Frau Steiner war, wie für uns Dorfbewohner zu sehen war, nicht eine von seinen liebsten Töchtern. Sie starb, wie wir glaubten, voll Gram und Zorn, und vielleicht lagen diese ihre letzten Gefühle in der schwülen Luft, als ihr Sarg der Mutter Erde übergeben wurde.
»Einbildung«, sagten sich die Trauergäste vermutlich im Stillen, und ein jeder ging etwas schnelleren Schrittes als bei früheren Begräbnissen wieder seiner Wege. Der Totengräber schüttete abschließend das Grab zu und bepflanzte es mit Blumen - im Übrigen hatte auch er, seiner eigenen Erzählung zufolge, eine unangenehme und nicht gewöhnliche Spannung während der spärlichen Zeremonie bemerkt ...



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